Der Priester traf uns vor dem Tempel. Er sah aus wie ein kräftiger junger Mann Anfang vierzig. Ein männliches Gesicht, dunkles Haar, braune Augen, fest zusammengepresste Lippen. „Wie konnte ich einen so kräftigen Kerl an Land ziehen?“ – blitzte es in meinem Kopf auf.
– „Ihr gottesfürchtigen Männer!“ – verbeugte sich der Priester. – „Mein Name ist Iridis.“ – Er kniete kurz vor jedem von uns nieder und berührte unsere Füße. Es war offensichtlich, dass er mit Willenskraft das Erscheinungsbild eines geängstigten Dämons unterdrücken wollte.
Iridis lud uns in die Gewölbe des Tempels ein. Dort kniete er nieder:
– „Ich verneige mich vor deiner Macht, der Macht Gottes, die dich berührt, gesegneter und unbesiegbarer Johannes, Gesandter des Mitra. Überheblichkeit und Eitelkeit, die eine Torheit sind, sind für mich zum Hindernis geworden. Verzeiht mir! Und läutere mich mit der großen Kraft, die sogar junge Männer befähigt, Wunder zu vollbringen.“
– „Er ist nicht mehr so jung“, lächelte der Großvater, als er mich ansah.
Der Priester kniete nieder und beugte sich in meine Richtung:
– „Ehrwürdiger! Ich danke für dein Wohlwollen mir gegenüber und dafür, dass du mich gerettet hast. Hinter mir steht keine Macht, die der deinen gleichkommt. Das sah ich damals, am Meer … Die Welle schlug mich auf einen Felsen, der Tod begann mit mir zu spielen. Du, Gottesfürchtiger, hast mich ans Ufer gezogen und mich am Leben gelassen. Ehre den Göttern, Dank sei Apollo, dem Lichtträger, und Mitra, den Sonnenträger, für das Leben!“
Johannes breitete seine Arme über dem Priester aus – Iridis´ Wille wurde schwächer. Der Großvater rief die Macht des VATERs an, die sich in seinem SOHN offenbarte, und rief den Dämon eindringlich auf, herauszukommen …
Als der Dämon herauskam, sah ich eine goldene Flamme mit einem Kreuz über Iridis brennen. Der Dämon konnte noch nicht richtig aufheulen, da roch es schon nach verbrannter Wolle. Der Besetzer konnte nicht entkommen, um wieder in jemanden einzugehen – Johannes hatte ihn aufgelöst. Ich glaube, ich habe herausgefunden, wie Großvater es gemacht hat. Johannes nickte zustimmend oder zufrieden mit dem Kopf und pries den Vater …
Als wir wieder daheim waren, fragte ich Johannes nach dem Geheimnis der Dämonenverbrennung:
– „Großvater, sag mir, habe ich deine Aktion richtig gesehen? Du hast das goldene Licht, das durch dich hindurchging, zu einem feurigen Kreuz gebündelt, dieses Leuchten auf den Dämon, der aus dem Magier herauskam, gelegt und diesen Gehörnten verbrannt! – Der Dämon sah wirklich aus wie ein gehörntes Vieh.“
– „Ja, Euseus, du hast richtig verstanden,“ – antwortete Johannes nachdenklich. – „Du kannst das versuchen. Du wirst es selbst sehen, wenn …
Mein Sohn, ich habe mir Folgendes überlegt“, fuhr Johannes fort. – „Wir werden noch ein Jahr, nicht mehr, zusammen sein. Dann wirst du deiner eigenen Wege gehen. Es wird Zeit für dich. Du bist bereit. Wie wahrscheinlich keiner von uns in den Jahren, als RABBI bei uns war. Ich werde auf der Insel bleiben. Und du wirst gehen. Du wirst nach Osten, nach Persien gehen. Auf dem Weg dorthin, wo du Möglichkeiten siehst und wo du Kraft hast, wirst du eine Gemeinde aufbauen. In Persien wirst du Freunde finden, die dir geistig nahestehen, und eine Gemeinschaft gründen. Bleib bei ihnen. Boten von ihnen werden weiter nach Osten gehen, bis nach Indien … Du aber kehrst zurück. Vielleicht lebe ich dann noch!“ – Großvater lächelte und umarmte mich ganz fest.
Ich wusste, dass es keiner Antwort bedurfte …
Bald kam Iridis zu unseren gemeinsamen Mahlzeiten. Bei seinem ersten Besuch nach dem Brechen des Brotes durch Johannes bereute der Priester vor allen seinen törichten und hochmütigen Eigensinn, mit dem er sich dem Willen Gottes widersetzt hatte.
Iridis hatte viele Fragen an Johannes. Johannes vertraute mir den Priester an und sagte:
– „Euseus weiß und kann alles, was ich weiß und tun kann. Eine solche Gemeinschaft wird für euch beide von Nutzen sein. Und dein Alter, Iridis, ist dem von Euseus näher als meinem.“
Wir haben uns mit Iridis angefreundet. Er war 12 Jahre älter als ich. So ist das manchmal – ein vermeintlicher Feind wird zum Freund. Ich erzählte Iridis von den Lehren des RABBIs, dem LEHRER selbst, den Jüngern, von unserer Gemeinschaft und von Johannes …
Der Priester erklärte, warum er zwei Kulte verehrte: den Sohn des Zeus, Apollo, und den persischen Gott Mitra. Obwohl der Tempel Apollo geweiht war, wurden von Iridis Feuersakramente abgehalten, die Mitra gewidmet waren. Der Priester setzte praktisch beide Kulte gleich, indem er Apollo, den lichttragenden Heiler und Wünschelrutengänger, und Mitra, den sonnenähnlichen Schutzherrn des Schicksals, als Ebenbürtige oder Brüder betrachtete. Aber aus seinen Erklärungen gewann ich den Eindruck, dass die tiefe Verehrung des antiken Gottes Mitra ihn mehr anzog, ihm näher stand …
Der Kult des persischen Gottes verbreitete sich im Mittelmeerraum dank der Kriege seit der Zeit Alexanders des Großen (der ebenfalls als Gott anerkannt wurde), der schließlich Persien eroberte, dessen Könige in den Jahrhunderten zuvor Hellas bedroht hatten. Davor eroberten die Perser Babylonien (Chaldäa), dessen Priester den Mitrakult von den Persern übernahmen und ihn aufgrund ihrer Gelehrsamkeit um Astrologie und Astronomie erweiterten. Die babylonischen Priester sahen in Mitra nicht nur einen guten Gott, der himmlisches Licht schickt und die Menschen beschützt, sondern auch einen Sonnengott. Alte persische Legenden besagen, dass Mitra aus einer höheren Götterwelt auf die Erde kam, einen Kampf mit der Sonne ausfocht, aus dem er siegreich hervorging und sich mit der Sonne anfreundete. Mitra war ein Freund der Menschen, half ihnen, Harmonie untereinander herzustellen, und half den Menschen, während der Sintflut zu überleben. Am Ende seines Daseins auf der Erde veranstaltete Gott Mitra für Götter und Menschen ein grandioses Festmahl, dessen Grundlage Brot und Wein waren. Dann fuhr er in einem feurigen Wagen in den Himmel.
Und als das große Persien vorübergehend von Alexander dem Großen besiegt wurde, begannen die babylonischen Priester, sich in ganz Kleinasien niederzulassen und zogen – zusammen mit ihren Armeen – hier und dort hin. Und dann, als Hellas Teil des großen Römischen Reiches wurde, ließen sich Priester – sie waren ja Magier, also Gelehrte – im dem gesamten Reich nieder, was bis nach Britannien reichte … So gehörte Mitra schließlich zu den griechisch-römischen Göttern, und im Römischen Reich wurde die Verehrung von Mitra mit der Verehrung der Sonne vereint, und Mitra erhielt den Namen „Großer Gott Mitra-Helios“.
Mitra war schon immer, seit der Sintflut, ein guter Gott, sein Name bedeutet „Vertrag“. Er war ein Vermittler zwischen dem Schöpfer der Welt und den Menschen. Er war die wichtigste Lichtkraft des Schöpfers im Kampf gegen das universelle Böse, die universelle Dunkelheit – und davon hängt, laut Avesta, die Weltordnung ab. Mitra beschützt die Harmonie zwischen den Menschen, schützt Freundschaft, geistige Tugenden und das entsprechende materielle Wohl, einen ausreichenden Wohlstand. Diejenigen, die Mitra und damit den Priester Iridis verehrten, glaubten, dass den Gerechten am Ende der Zeit das ewige Leben zuteil würde, auch wenn das Böse noch nicht besiegt war.
Iridis hat mich auch in interessante astrologische Details eingeweiht. In dem Tempel gab es einen großen Raum, in dem der Fussboden des Tempels als Zimmerdecke diente1. Es war ein Mitreum, ein Heiligtum, ein Tempel des Mitra. Es sah wie folgt aus: ein rechteckiger Raum mit einem Bogen an der entfernten Wand, ein Altar mit einem Bild Mitras, wie er einen Stier mit einem Dolch durchbohrt, auf dem Altar ein ewiges gesegnetes Feuer, dem Symbol des Weltenschöpfers. Die Wand war mit einem Fresko geschmückt, das den Sternenhimmel, die Sternbilder des Tierkreises, die nahen Planeten und die Sonne darstellte. Über all dem breitete Mitra seinen Mantel aus, der das Firmament und die Menschheit bedeckte.
Iridis erklärte das, was dort dargestellt wurde, wobei er mit der rechten Hand darauf deutete. Ich verstand es so. In den alten Zeiten (zwei Zeitalter zurück) fiel die Markierung der Frühlings-Tagundnachtgleiche auf das Sternbild des Taurus. Das Sternbild Löwe zeigte die Position der Sonne zur Sommersonnenwende an. Über dem Stier befindet sich das Sternbild des Perseus: es ist ein junger Mann mit einem Schwert oder einem großen Dolch, der mit Mitra identifiziert wird … Der Stier, durchbohrt von Mitras Dolch, bedeutet das Ende des Stier-Zeitalters, das etwa vom einundzwanzigsten Jahrhundert bis zur Mitte des fünften Jahrhunderts vor der Geburt des LEHRERs dauerte. Der Wechsel der Epochen ist auf die Verlagerung der Rotationsachse der Erde mit einer Periode von 26000 Jahren – das ist die Präzession – zurückzuführen. Mit dem Wechsel der Epochen kommt ein GESANDTER oder das WORT des SCHÖPFERs der Welt. ERLÖSER ist ein weiterer Name des GESANDTEN. Etwas mehr als zweitausend Jahre vor unserem Kontakt mit Iridis, beim planmäßigen Wechsel der Zeitalter, kam ein GESANDTER des SCHÖPFERs, das WORT des SCHÖPFERs, das die Avesta brachte – die Erste Botschaft. Vor einigen Jahrzehnten wechselte Mitra nach dem WILLEN des SCHÖPFERs der WELT erneut die Epochen. Das Zeitalter der Fische war angebrochen. Also musste wieder ein GESANDTER kommen. Letztenendes wird ein GESANDTER in etwa zweitausend Jahren, an der Schwelle des ausgehenden Fische-Zeitalter und des kommenden Wassermann-Zeitalters, wiederkommen. Und so weiter, solange die Erde existiert…
– „Und er ist gekommen“, sagte Iridis lebhaft. – Und der letzte seiner direkten Jünger trieb den Dämon aus mir heraus.“
– „Erkläre mir, lieber Freund, eine Geschichte, die ich wahrscheinlich nicht kenne“, sagte ich und lächelte. – Einige der Frauen auf der Insel haben mir und Johannes erzählt, dass du primitive Magie mit unseren Abbildern angewandt hast – sie durchbohrt und und ertränkt hast. Vielleicht gab es so etwas gar nicht. Aber man sagt, dass aus dem Nichts kein Rauch entsteht.“
– „Bruder Euseus!“ – lächelte Iridis, – „ich musste doch eure Macht testen. Habt ihr sie? Ich brauchte ein Experiment, eine Erfahrung. Was, wenn nichts hinter euch steckt und eure Kräfte nur Zaubertricks für empfängliche Frauen sind?
Das Gerede über die primitive Magie – das sind meistens Gerüchte von eben diesen beeinflussbaren Frauen. Aber ich habe schon einige ernstzunehmende Dinge an euch ausprobiert. Das kann nicht jeder Magier. Es ist mir gelungen, die Astralkörper von Tieren, deren Lebenskraft im Abklingen begriffen war, durch einen Kraftkanal zu schicken, der durch Gedanken und Vorstellungskraft aufgebaut wurde. Der Geist des Tierfriedhofs hat mir dabei geholfen. Es ist mir gelungen, ihn zu einem Geschäft zu überreden. Ohne ihn wäre das nicht möglich gewesen. Es war ein interessanter, kreativer Prozess. Apollo hat mir geholfen, ihm sei Dank … Da habe ich endlich verstanden, mit welcher Macht ich es zu tun hatte. Ich wäre fast ertrunken und hatte eine Besessenheit, mit der ich nicht umgehen konnte. Und diese Macht, gegen die ich mich anmaßend gestellt hatte, hat mich gerettet. Das ist göttlicher Großmut! Dank dem Großen Mitra, dass ich an dem großen Geheimnis teilhaben darf!
Ja, einige meiner Handlungen waren unrein. Ich habe das erkannt. Ihr habt mir meine Schwächen gezeigt, durch euch hat Mitra mir die niederen Aspekte meiner Natur gezeigt. Danke euch und Mitra in euch!“
Ich sage nun etwas über kommende Ereignisse. In einigen Jahren wird Iridis ein Geistlicher und Bischof einer christlichen Kirche des ERLÖSERs des Fischezeitalters sein. Der Gouverneur der Insel wird ihm gestatten, den Tempel umzubenennen, wobei der Kult des Mitras und des Apollo beibehalten wird …
Als Symbol der Kirche des ERLÖSERs wird Iridis das Symbol von Mitras wählen – ein Kreuz in einem Kreis, das die Sonne verkörpert, die in die Welt ein unbesiegbares Licht ausstrahlt …
Und in den besagten Tagen gründete Iridis eine Familie mit Mutter Athena. Sie werden zu gemeinsamen Mahlzeiten und zum Abendmahl zusammenkommen.
1Möglicherweise ein Hinweis auf zwei Etagen