Unsere Gruppe wanderte durch das nördliche Mesopotamien, das im Laufe der Jahrtausende viele Kriege erlebt hatte. Die junge menschliche Zivilisation war gerade dabei, sich selbst kennenzulernen. Mehr oder weniger verwandte Völker, Nachkommen Noahs, kämpften um das fruchtbare, natürlich bewässerte Land des Zwischenstromlandes und entwickelten nebenbei Handwerk, Landwirtschaft, Kultur, Kunst und Waren-Geld-Beziehungen. Sie stritten sich bis hin zu Bruderkriegen um ihre Götter und Göttinnen und verbreiteten ihre Kulte in benachbarten Gebieten, was zur Verehrung der gleichen oder ähnlicher Götter führte.
Damals wie heute beruhte die Einheit einzelner Völker eher auf Macht und dem Vorteil der Zusammenarbeit auf fruchtbarem, reichem Land, als auf dem Wunsch, einander zu respektieren und selbstlos zu helfen.
Und wenn ringsherum Krieg herrscht, will man noch mehr kämpfen. Das waren die Erfordernisse der damaligen Zeit. Selten gelang es jemandem, über die in der jeweiligen Zeit etablierte Ethik des Zusammenwirkens der Völker hinauszugehen …
Zur Zeit unserer Wanderung lag Mesopotamien am Rande des großen Römischen Reichs. Doch einst gab es hier das große Assyrien und das große Babylon, das mächtige persische Reich und das glorreiche Reich Alexanders des Großen … Während der letzten Jahrhunderte kämpfte Parthien mit wechselndem Erfolg mit Rom um dieses Land.
Das Volk Israel träumte seit der Zeit seiner Erwählung vom Zwischenstromland. Assyrien und Babylonien nahmen in ihren Bestrebungen keine Rücksicht auf die Träume der Israeliten und wurden deren historische Feinde. Dennoch blieben gerade dank der babylonischen Gefangenschaft die jüdischen Weisen und die mündliche TORA erhalten, und in Mesopotamien entwickelten sich jüdische Diasporen, die über die Jahrhunderte hinweg dort Fuß fassten.
An einem der Rastplätze bat mich Alan nach dem Essen um ein Gespräch. Es war ein warmer Abend. Wir zogen uns entlang des Baches flussabwärts zurück.
Meine Freunde sprachen mich manchmal als „Meister“ oder „Lehrer“ an. Das war die damalige Tradition: Jeder hatte einen Lehrer, aber derjenige, der als erfahren und sachkundig angesehen wurde, wurde als „Lehrer“, „Meister“ oder „Rabbi“ bezeichnet. Meine Freunde definierten mich als solchen, vor allem Lukas, mit dem ich ein Jahr zuvor von zu Hause fortgegangen war. Ich selbst sah mich als Bote, als Apostel, als jemand, der von Johannes, dem Jünger CHRISTI, mit der Botschaft CHRISTI gesandt wurde.
– „Meister, ich brauche deine Hilfe“, begann Alan. – „Du weist alles Geschriebene und Ungeschriebene über RABBI, du kennst seine Worte … Du hast Erfahrung in Beziehungen … Frauen lieben und respektieren dich …“
– „Bruder, das reicht, du brauchst zu lange, um anzufangen. Sag mir das Wichtigste.“
– „Ich habe ein Problem mit Asana … Ich liebe sie sehr, ich bin eifersüchtig … Die Männer mögen sie, sie schauen sie an, sogar in der Gemeinde von Sacharia schauten sie sie an, als wollten sie sie verschlingen.“
– „Asana ist ein wunderschönes Mädchen. Auch ich bewundere sie manchmal“, sagte ich mit einem Lächeln und forderte meinen Kameraden auf, offen über das nicht einfache Thema zu sprechen.
– „Dann bin auch eifersüchtig auf dich, Euseus!“
– „Was soll ich nun tun?“
– „Ich weiß es nicht … Aber wie kann man die Frau eines anderen Mannes so ansehen?“
– „Und für wen ist Asana hier eine Fremde? Männer schauen immer auf Frauen und Frauen schauen immer auf Männer. So hat es der SCHÖPFER eingerichtet. Das kann man nicht ändern. Wie soll ich dir helfen? Willst du, dass ich sie nicht ansehe? Selbst wenn ich es versuchen würde, glaube ich nicht, dass es funktionieren würde. Und auch andere werden sie weiterhin anschauen.“
– „Das verstehe ich … Aber man darf sie nicht begierig anschauen.“
– „Du darfst es, andere aber nicht?“
– „Sie ist meine Freundin, also darf ich das.“
– „Gut, sie ist deine Freundin. Und was stört dich?“
– „Das ist es, was mich stört. Dass andere sie so ansehen, begierig.“
– „Kannst du es ohne Begierde?“
– „Nun … ohne – es geht … Alle Menschen sehen einander an.“
– „Richtig. Und wie kann man anderen verbieten, ein schönes Mädchen mit Begierde anzuschauen?“
– „Ich weiß es nicht.“
– „Ich weiß es auch nicht.“
– „Das Gebot verbietet doch, die Frau eines anderen Mannes anzuschauen“, lebte Alan ein wenig auf.
– „Alan, mein Freund. Sie ist noch nicht deine Frau. Und wenn du so eifersüchtig bist, wird sie es niemals sein … Das Gebot ist dazu da, dich davon abzuhalten, die Frau eines anderen Mannes zu begehren, nicht um zu sehen, ob deine Freunde das Gebot einhalten … Und wie kamst du darauf, dass sie jemand begierig ansieht?“
– „Mir scheint es so“.
– „Es scheint so, als scheine es nur so. Wenn du damit selbst nicht klarkommst, frag deine Freunde, wie sie Asana ansehen … Frag mich. Ich werde ehrlich antworten: ´Ich bewundere sie manchmal, aber aus der Bewunderung entsteht bei mir nicht der Wunsch, sie zu besitzen´. Hat dir diese Antwort geholfen?“
Alan zuckte mit den Schultern:
– „Nun … es hat ein wenig geholfen.“
– „Du denkst wahrscheinlich, dass ich nicht der Einzige bin, der sie mit Begierde ansieht?“
– „Ja“, nickte Alan.
– „Nun, frag alle deine Freunde … Sie werden antworten wie ich. Und dann? Wirst du dann weiter so denken?“
Alan zuckte wieder mit den Schultern.
– „Mein Freund. Wenn du dich entschließt, deine Freunde zu fragen, und sie antworten wie ich, oder ähnlich, und du denkst immer noch so … Was wird es dann sein? Los – versuche jetzt zu antworten. Denke nach und antworte.“
– „Ich verstehe, Meister“, fuhr Alan nach einem kurzen Schweigen fort. – „Wenn ich nach deiner Antwort immer noch so denke, bedeutet das, dass ich meinen Freunden nicht vertraue …“
– „Ja, Alan. Und wie sollen wir eine Gemeinschaft aufbauen, ohne unseren Freunden zu vertrauen?“
– „Ich will vertrauen!“ – Alan schüttelte den Kopf, als wäre er aus einem Traum erwacht. – „Das war’s! Ich hab’s schon vergessen, alles aus meinem Kopf geworfen, was ich vermutete – und zwar in diesem Moment!“
– „Das kann einige Zeit dauern. Schmeiß deine Verdächtigungen jeden Tag aufs Neue aus deinem Kopf. Und bete öfter, vergiss das nicht in schwierigen Momenten. Du weißt, wie man das macht, vergiss nicht zu beten, wenn eine schwere Situation auf dich zukommt!
Aber wir sind noch nicht bei deinem Splitter angekommen. Wenn du weiterhin gegenüber allen Männern eifersüchtig auf Asana bist und Asana selbst verdächtigst, hinderst du schließlich das Mädchen, das du liebst, daran zu atmen, die Welt kennenzulernen. Sie wird es schwer haben mit dir. Sie ist ein Mensch wie du … Nun, nicht derselbe, aber ein Mensch, der intensiver und stärker fühlt als du. Sie hat andere Gefühle, andere Ziele, weibliche … Sie muss keine Länder erobern, keine Gemeinschaften aufbauen – sie braucht einen zuverlässigen, freundlichen, starken Mann, der sie selbst und ihre Kinder beschützt.“
– „Und was soll ich tun? Ich liebe sie.“
– „Okay, wir fangen noch einmal von vorne an. Du scheinst nicht nur den Männern zu misstrauen, sondern auch ihr … Was macht sie falsch? Worüber bist du unglücklich?“ Sag es geradeheraus.
– „Sie sieht andere Männer mit Aufmerksamkeit an!“ – platzte Alan heraus.
– „Das hatten wir schon. Frauen werden Männer anschauen und Männer werden Frauen anschauen. Das kann man nicht ändern. Um sich zu verbinden muss man hinschauen, sich kennenlernen, muss man kommunizieren um zu sehen, ob das ein Mensch für dich ist … Wenn sie immer noch andere Männer mit Aufmerksamkeit ansieht, ist sie sich vielleicht nicht sicher mit dir. Vielleicht sieht sie deine Zweifel, deine Unentschlossenheit und fühlt sich unsicher … Hast du Asana gesagt, dass du sie liebst?“
– „Ja, das habe ich. Und sie hat gelächelt: ´Du gefällst mir auch, Alan.´ Aber sie spricht weiter mit anderen Leuten.“
– „Du weißt doch, einer der Männer in ihrem Heimatdorf hat ihr schwere Schmerzen zugefügt und sie auch gedemütigt. Sie liebte ihn, vertraute ihm. Jetzt ist sie den Männern gegenüber misstrauisch, sie traut den Worten der Liebe nicht. Sie will sicher gehen, dass es keine leeren Worte sind, wie es schon einmal war …“
– „Was kann ich tun, um sie zu überzeugen?“
– Sei ihr ein zuverlässiger Freund, egal was sie tut. Sie muss sich irgendwie vergewissern, dass sie sich auf dich verlassen kann … Und lerne, zurück zu lächeln, gutherzig zu scherzen. Wenn du lernen willst, Witze zu machen, mach Witze über dich selbst, nicht über sie. Ein Mann sollte einer Frau nichts verübeln … Merke dir das, mein Freund, und mach es so. Das hat Johannes mir immer gesagt, und er hat viel Zeit mit RABBI verbracht … Übrigens, Alan, hast du ihr nach deiner Liebeserklärung gesagt, dass du sie zur Frau nehmen willst?“
– „Nein, habe ich nicht.“
– „Warum hast du das nicht getan?“
– „Ich weiß es nicht.“
– „Dann weiß ich auch nicht weiter … Warum verschwenden wir hier unsere Zeit, wenn wir nicht aufrichtig und offen sprechen?“
– „Nun, weil … ich sie liebe. Aber sie wurde von einem unreinen Mann beschmutzt …“
– „Und was weiter?“
– „Wie kann ich eine unreine Frau heiraten?“
– „Warum hast du dann ihr gegenüber von Liebe gesprochen? Sie spürt deine … Unzuverlässigkeit. Sie hat doch Recht, wenn sie das nicht ernst nimmt.
. Alle Achtung, Asana! Wozu braucht sie einen solchen Mann?“
– „Wieso wozu?“
– „Ein Mädchen, eine Frau will immer Mutter sein, das liegt in ihrer Natur … Asana wird einen zuverlässigen Mann suchen, mit dem sie ein Kind haben kann, besonders nach dem, was ihr passiert ist … Entschuldige dich bei ihr, Alan. Sag ihr, was für ein Feigling du bist und warum du sie nicht heiraten kannst. Sag ihr, sie soll sich einen anderen Mann suchen, einen besseren Mann. Und du bist weiter eifersüchtig, bis du geläutert bist …“
– „Wie das, Meister?!“
– „Du hast gefragt, ich habe dir geantwortet … Unbefleckt, rein erhalten! Menschen, die für ein Stück Brot töten?!“
– „Ich habe niemanden umgebracht!“
– „Du hast anderen geholfen, Menschen für Essen zu töten. Du hast dich selbst verunreinigt, Perser, durch deine Handlungen und Gedanken. Welches Recht hast du, über Asana zu richten? Gib dir selbst die Schuld. Sie ist ein reines menschliches Wesen. Sie ist auf der Suche nach einem anständigen Mann. Wie kannst du sie für die Sünde eines Mannes verurteilen? Er hat sie betrogen, der Mann. Und nicht sie ihn …“
Alan verstummte. Er senkte den Kopf, er weinte.
– „Du hast Recht, Euseus … Was soll ich jetzt tun?“
– „Willst du sie zur Frau nehmen?“
– „Ja, ich liebe sie sehr.“
– „Gewinne ihre Liebe. Entschuldige dich für deine Bedenken. Sag ihr, dass du sie liebst und dass du sie zu deiner Frau machen willst. Und wenn sie nicht sofort antwortet – was sie wahrscheinlich tun wird – nimm es ihr nicht übel. Lächle und sage: „Ich werde versuchen, deiner würdig zu sein“. Und sei ihr weiterhin ein Freund, biete ihr deine Schulter zum Anlehnen und schütze sie vor Gefahren …
Sobald Eifersucht in dir aufsteigt, zieh dich zurück und bete. Wenn du dich nicht zurückziehen kannst, bete im Stillen. Mein Freund, du hast jetzt keine andere Möglichkeit mehr. Versuche, das zu tun, was ich dir gesagt habe. Wenn du nochmal mit mir sprechen willst, ich bin in der Nähe …“
Wir umarmten uns fest und gingen zurück zum Feuer.
Es war die zweite Woche der Reise, und es wurde beschlossen (Nathan schlug es vor), dass Nathan, Nasir und Haran frühmorgens mit leichtem Gepäck abreisen sollen. Sie sollen den Weg erkunden, ihn markieren, und einen für unsere Gruppe bequemen Ausgang zum Euphrat finden, wo man ihn überqueren kann, und danach umkehren und uns entgegengehen. Die Richtung, in die wir uns bewegten, bestimmten wir nach der Sonne und dem weit entfernten Gipfel im Osten. Wir einigten uns darauf, dass die Markierung auf dem Weg ein in den Boden geritzter Keil sein sollte, dessen Spitze in die Bewegungsrichtung zeigt …
Der Voraustrupp würde schnell vorankommen, mit einem kurzen Nickerchen (es war wolkenloser Vollmond), die Hauptgruppe würde gemächlicher vorankommen, mit der üblichen Nachtruhe.