Die Geschichte von Euseus – Teil 2 – Kapitel 18

Der Tempel ist das herausragende Bauwerk in der Stadt Midia. Ich erreichte ihn problemlos. Die wenigen Einwohner – es war ein heißer Nachmittag – begrüßten mich mit einer halben Verbeugung, wobei sie ihre Hand aufs Herz legten. Ich antwortete ihnen auf die gleiche Weise, mit dem Lächeln eines müden Reisenden. Ich hatte den Eindruck, dass sie bemerkten, dass ich ein Fremder war.

Ich ging die gerade, sonnendurchflutete Straße entlang, die zum Heiligtum führte. Der Tempel hatte eine rechteckige Form, die Wände waren mit Lehm verputzt. Der obere Teil ähnelte einer flachen Kuppel. Der Eingang war wie ein doppelwandiger Iwan, der Raum war immer offen, von weitem meinte man den Schein des Altarfeuers in den Tiefen des geräumigen Eingangs zu sehen.

Die Straße ist weiß von der Sonne, dem bleichen heißen Himmel und den hellen Häuserwänden. Ein hochgewachsener Mann in weißem Gewand kam aus der Öffnung des Tempels: ein langes umgürtetes Hemd, weite Hosen, eine weiße Mütze auf dem Kopf. Er war von kräftiger Statur, hatte mittellanges schwarzes Haar und einen dichten Bart, der nur wenig ergraut war. Er hatte auf mich gewartet. Ich hatte seine Augen noch nicht gesehen, aber ich spürte bereits eine Woge der Zuneigung.

– „Friede sei mit dir, Reisender. Möge das Licht des ALLGUTEN mit dir sein“ – er verbeugte sich zuerst vor mir.
– „Friede sei mit dir, Mobed, Abkömmling eines Schülers des Propheten“, grüßte ich den Priester mit einer halben Verbeugung und hielt meine Hand auf mein Herz.
Der Priester sprach reines und korrektes Griechisch. Er sah mich mit großen, freundlichen, gelb-grünen Augen an und lächelte offen:
– „Ja, so ist es, Wanderer, der eine gute Botschaft bringt. Ich stamme aus einem alten Geschlecht von HÜTERN des FEUERS. Mein Name ist Dasda“ – er verbeugte sich erneut und legte seine Hand auf sein Herz.
– „Ehrenwerter, tugendhafter Dasda, mein Name ist Euseus, ich komme in dein Land mit der FROHEN BOTSCHAFT des GESANDTEN des HERRN“ – ich konnte nicht anders als lächelnd antworten. – „Heller Dasda“, fuhr ich mit einer halben Verbeugung fort, „ich schlage vor, dass wir uns nicht so oft voreinander verbeugen, denn unser gegenseitiger Respekt ist in unseren Augen deutlich sichtbar.“

Der Priester lachte und umarmte mich. Wir waren sofort und für immer Freunde in unserer damaligen Inkarnation. Dasda war gütig, weise, schön, strahlend von einem unendlichen inneren Licht. Es war, als hätte ich einen fürsorglichen älteren Bruder gefunden. Er war damals fünfzig Winter alt, wie man in dieser Gegend zu sagen pflegte. Aber eine solche Anzahl von Frühlingen war in Dasdas von Stärke und Gutmütigkeit geprägter Erscheinung schwerlich zu finden.

Die Bedeutung seines Namens war Geben, Großzügigkeit. Es ist ein seltener Fall, dass die Bedeutung dem Charakter einer Person entspricht. Um sich der Bedeutung des Namens anzunähern, bedarf es meistens einer ganzen Inkarnation.

Bei unserem ersten Treffen fiel mir die weiße Binde, ein Padan, auf, die locker um den Hals des Priesters hing. Das Padan ähnelte einer Schutzmaske der modernen Ärzte.

Der Priester lud mich in den Tempelhof ein, der sich rechts vom Eingang befand. Es war eine kleine Pfirsichplantage mit dichtem Gras, dem süßen Duft verschiedener Blüten und frisch gemähtem Heu. Im hinteren Teil befand sich neben einer mannshohen Mauer aus weißem Stein ein Waschplatz, der von dicht gepflanzten Weinstöcken umgeben war. Das Becken selbst war mit verzierten Terrakottafliesen bedeckt und hüfthoch umrandet. Auf zwei Holzregalen standen große Krüge mit breitem Hals. In den Krügen war gesegnetes oder geweihtes Wasser mit weißen Blütenblättern und grünen Blättern irgendeiner Pflanze an der Oberfläche.
Vom Boden des Brunnens bis zu den Bäumen verliefen mehrere feste Rinnen aus Ton, die jeweils mit einem Stopfen versehen waren, um das Abfließen des Wassers regulieren zu können.

Ich wusch mich von oben bis unten und sprach ein kurzes Dankgebet. Dasda bot mir saubere weiße Kleidung an, die seiner Kleidung ähnelte: Mütze, Hemd, Gürtel, eine Hose mit einem eigentümlichen Geruch; nur der Padan, eine Binde für den unteren Teil des Gesichts, fehlte. Den besaß nur der Mobed (Priester), der das Recht und die Pflicht hatte, sich in der Nähe des heiligen Feuers aufzuhalten, um rituelle Handlungen vorzunehmen.

In einer mit Weinstöcken berankten Gartenlaube redeten wir bis in die Nacht hinein. Wir nahmen süß-säuerliche Getränke zu uns, die mit Wasser verdünnt waren, oder Früchte, die Dasda direkt von den Zweigen pflückte. Unter den Füßen konnte man einen warmen dichten parthischen Teppich von leuchtenden Farben angenehm spüren.

Zu Beginn des Gesprächs erzählte ich, so kurz wie möglich, von meinem Leben, von meiner Erziehung, von Großvater Johannes, einem direkten Schüler des GESANDTEN des HERRN, vom Leben des LEHRERS, der eine außergewöhnliche und verständliche LEHRE über die LIEBE brachte, die zum REICH GOTTES auf Erden führt, von SEINER Hinrichtung, die von den Priestern und Schriftgelehrten angestiftet worden war, vom Leben in Gemeinschaft, was der LEHRER geboten hatte , vom Aufbau einer freundlichen Gemeinschaft in meiner Heimatstadt durch Johannes, von dessen langer Reise nach Persien, von meinen wunderbaren Freunden und der Gemeinschaft am Ufer des Euphrat – und natürlich von Ani, die immer darauf wartete, dass ich zurückkehrte …

Es stellte sich heraus, dass Dasda auf mich gewartet hatte … Er war nicht nur der Hüter des Feuers und des Wissens des AVESTA, der ERSTEN BOTSCHAFT, sondern auch ein Priester-Astrologe, Hüter des astronomischen und astrologischen Wissens und sehr alter Sterntabellen. Dieses uralte Wissen wurde durch priesterliche Linien weitergegeben, die auf die direkten Schüler des einzigen Propheten des ALLGUTEN SCHÖPFERS Ahura Masda, des HERRN der WEISHEIT, zurückgehen. Der Name des Propheten war Spitama Sarathusсhtra, Ascha Sartoscht, wie ihn die Parser nannten. Nach Auffassung des Dasda-Geschlechts wurde Sarathusсhtra etwa 1900 Jahre vor meiner Begegnung mit Dasda geboren.

Die Priesterfamilie von Dasda gab das uralte Wissen und die Berechnungen über die Wechselwirkung der Phänomene im Universum vom Vater an den Sohn weiter. Ein zeitloses Prinzip: Was unten ist, gleicht dem, was oben ist, und was oben ist, gleicht dem, was unten ist. Im Universum gibt es keine großen oder kleinen Dinge, die unabhängig voneinander existieren. Die Positionen der Planeten des Sonnensystems und der Sterne der Galaxie zum Zeitpunkt der Geburt eines Menschen bestimmen die Kontur seines Schicksals und seiner Charaktereigenschaften, und das Leben eines Menschen mit seiner freien Wahl zwischen Gut und Böse, die in jedem Augenblick besteht, und den daraus resultierenden Handlungen, Worten und Gedanken, hat Auswirkungen auf die Weltordnung …

Dasdas entfernter Urgroßvater ging vor sechs Jahrhunderten nach Babylon zu den Priester-Astrologen, um Wissen auszutauschen und Neues zu lernen. Babylonien war damals Teil des großen persischen Reiches. Der Prophet Dasdas wurde in die geheime Kaste der babylonischen Priester aufgenommen, die den Sternenhimmel beobachteten und die Wechselwirkungen im Universum studierten und Tabellen erstellten, in denen die Beziehungen zwischen den Phänomenen oben und unten festgehalten wurden. Er wurde in diese geschlossene Gesellschaft der chaldäischen Priester (wie sie genannt wurden) aufgenommen, als Gegenleistung für die Kenntnis des Avesta, das mündlich von Hüter zu Hüter weitergegeben wurde.

Als Ergebnis dieser Reise erweiterte die Priesterfamilie Dasdas ihr Wissen über Astronomie und Astrologie und wurde zum Besitzer Jahrtausende alter Tabellen mit Beobachtungen der Positionen der Himmelskörper in Bezug auf natürliche, historische Ereignisse und Ereignisse in menschlichen Schicksalen. Diese Tabellen waren unvorstellbar alten Ursprungs. Es ist schwer vorstellbar, aber die Quellen der Aufzeichnungen der babylonischen Priester über die Beobachtungen datieren mehrere zehn Jahrtausende zurück …

Ich kürze diese Erläuterung über die Geschichte des Hüters ab – Dasda war sowohl ein Hüter des alten Wissens über das Universum als auch ein astrologischer Wissenschaftler. Er wartete auf die Ankunft eines Fremden mit einer besonderen Botschaft am kommenden Tag, basierend auf seinen astrologischen Tabellen und einer Offenbarung im Traum am Vortag. In diesem Traum sagte der Prophet Sartoscht, der vor fast zwei Jahrtausenden das Wort des Allmächtigen empfangen hatte, zu Dazda: „Mobed, eine BOTSCHAFT über das Verheißene erwartet dich.“ Und jetzt sitzen wir uns auf einem parthischen Teppich in einem Pavillon neben dem Tempel gegenüber, es ist ein samtener Abend, und wir können nicht alles ausführlich diskutieren.

Den Berechnungen seines Großvaters zufolge, eines berühmten Weisen in Midia, eines Zeitgenossen des RABBI, deutete die Stellung der Planeten einst auf eine besondere Geburt in den Ländern zwischen Phönizien und Judäa hin. Und diese Geburt sollte 109 Jahre vor meiner Begegnung mit Dasda an einem samtig orientalischen, leicht süßlichen Abend stattfinden …

Vom Priester der Synagoge seiner Heimatstadt erfuhr Dasda von einem jüdischen Propheten-Prediger, der von den Römern in Jerusalem hingerichtet und von den Schriftgelehrten der Tora abgelehnt wurde. Einige Juden nahmen ihn als den erwarteten GESALBTEN des ALLERHÖCHSTEN an. Sein Leichnam soll aus dem Grab verschwunden sein: Einige behaupteten, der Prophet sei in einem Körper aufgestiegen (wofür es angeblich Zeugen gab), andere sagten aus, seine Jünger hätten den Leichnam heimlich an einem versteckten Ort begraben …

– „Jeder Hüter des Avesta weiß, dass vor der Wiedererstehung der vollkommenen Welt drei Erlöser, die Saoschjanta, kommen müssen. Zwei von ihnen werden die LEHRE des Avesta wiederherstellen. Der Erlöser kommt und wird kommen zum Wechsel der Sternenepochen. Das Zeitalter der Fische ist bereits angebrochen“, sagte Dazda und lächelte mit seinen klugen Augen. – „Erlaube mir, guter Bote, ich werde dich zuerst nach dem LEHRER fragen, denn ich habe lange auf jemanden gewartet, der die NEUE LEHRE kennt. Danach kannst du von mir all das erfahren, was ich weiß.“
– „Ich stimme zu, ehrwürdiger und weiser Hüter“, lächelte ich in einer sitzenden halben Verbeugung.

– „Ich habe erfahren, dass ein enger Schüler des hingerichteten Propheten, dein Meister Johannes, in seinem langen Leben die Nachricht des Propheten in den Osten, weit entfernt von Rom, nach Kilikien gebracht hatte. Ich träumte davon, ihn zu treffen. Alles nach dem WILLEN des ALLGUTEN … Ich bin ein Mobed, ein Hüter des Feuers. Das Feuer zu bewahren und zu schützen, das ist der Sinn meines Lebens. Ich wartete darauf, dass mein Sohn Hüter wird, um ihm das Feuer zu übergeben und selbst eine lange Reise anzutreten … Und so fand das schicksalhafte Treffen auf die Weise statt, wie es geschehen sollte – und nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte … Sag mir, guter Freund, in welchem Alter erhielt der Lehrer die Offenbarung und begann zu predigen?“
– „Im Alter von etwa dreißig Jahren wurde er durch den HEILIGEN GEIST erweckt und begann, das WORT des VATERS zu predigen.“

Dasda ist tiefgründig und einfühlsam. Er stellte seine Fragen so, dass mir verständlich war, warum er sie stellte. Und wenn die Erklärung nicht in der Frage enthalten war, gab er die Erklärung, nachdem er die Antwort bekommen hatte. In der Art und Weise, wie er mich nach der LEHRE fragte, machte er mich ebenfalls mit den Besonderheiten des Avesta bekannt. Außerdem kannte der Hüter des Feuers die Tora und die Propheten gut – so gut, dass er die Tora sowohl auf Griechisch als auch auf Aramäisch zitieren konnte …

Dasda nickte auf meine Antwort hin mit dem Kopf:
– „Sartoscht erhielt die OFFENBARUNG des ALLGUTEN ebenfalls im Alter von dreißig Jahren. Und er predigte das WORT des GUTEN SCHÖPFERS, bis er zweiundsiebzig Jahre alt war. Er starb im Tempel, von einem Schwert erschlagen …“

– „Ein guter Bote“, fuhr Dasda fort. – „Der HERRSCHER der WEISHEIT, der das AVESTA gegeben hat, ist der ALLGUTE. Er ist der SCHÖPFER der GUTEN Welt, die nicht vom Bösen besudelt ist. Der ALLGUTE kann nicht der Schöpfer des GEISTES des BÖSEN sein … Der GOTT Israels ist der Vergeltende und der Versuchende, er ist der Schöpfer der Welten und der Engel, unter denen sich auch Satan befindet – der Herrscher über die Dämonen. Der Schöpfer der Welten ruft durch Mose sein auserwähltes Volk auf, den Monotheismus einzuführen, und die Völker zu vernichten, die andere Götter verehren …

Wer ist der HERR, dessen WORT der GESANDTE, euer LEHRER, überbrachte?“

– „Sein WESEN ist LIEBE und LICHT. Und ER gießt sein SEGENSREICHES LICHT, den HEILIGEN GEIST, gleichermaßen über Gerechte und Sünder aus. Er führt nicht in Versuchung, die LIEBE kennt keine Versuchung. ER liebt.“- „Lass mich dich umarmen, Bote“, lächelte Dasda.Wir umarmten uns – lange – und unter Tränen. Der samtig heiße Sonnenuntergang ging in die Dämmerung über.

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