Die Geschichte von Euseus – Teil 2 – Kapitel 19

Vor Einbruch der Dunkelheit zog sich der Hüter des FEUERS zweimal zum Gebet zurück – am Nachmittag und vor Sonnenuntergang. Er nahm die Waschung vor und ging für eine kurze Zeit in den Tempel.- „Ich kann dich einladen, wenn du ein Avestaner wirst“, erklärte er lächelnd. – „Ein Nicht-Avestaner sollte sich nicht im Tempel des FEUERS aufhalten, der dem ALLGUTEN HERRSCHER der WEISHEIT geweiht ist.“Als Dasda nach dem zweiten Gebet zu unserer Unterhaltung zurückkehrte, sagte er:- „Bruder Euseus, wir sollten unser Gespräch unterbrechen und zum Haus meiner Familie gehen – es ist ganz in der Nähe, jenseits des Gartenzauns – um zu Abend zu essen und uns auszuruhen, damit wir Kraft für die Fortsetzung unseres Gesprächs schöpfen können.“ Aber aus eigener Kraft konnten wir den spannenden Fluss unserer Unterhaltung nicht aufhalten …

– „Für die Avestaner bedeutet der Weg der Rechtschaffenheit – gute Gedanken, gute Worte und gute Taten. Danach strebt der, der an das ALLGUTE glaubt. Kannst du, Euseus, das Wesentliche der NEUEN LEHRE benennen?“ – war eine der Fragen von Dasda.- „Das Wesentliche ist ähnlich dem, was du, Dasda, ausgedrückt hast … Für mich sind das Wesentliche diese Perlen: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu; liebe deinen Nächsten wie dich selbst … Rabbi sagte: ´Segnet die, die euch verfluchen, und betet für eure Feinde. Liebt die, die euch hassen, tut ihnen Gutes, dann werdet ihr keine Feinde haben´ … Man soll lernen, wenn einem das Böse begegnet, mit Gutem und nicht mit Bösem zu antworten. Wenn du auf die eine Wange geschlagen wirst, halte die andere hin. Dann wird der Teufel zu Fall gebracht …“, antwortete ich langsam, wobei ich meine Worte bedachtsam wählte.

Dasda schwieg nachdenklich.
– „Das ist der kürzeste Weg, von dem ich gehört habe, um Ahriman zu besiegen … ein schwerer Weg…“, sagte er nach einigen Augenblicken des Schweigens. – „Auferstehung von den Toten … Die geschriebene Tora gibt keine Antwort, die Sadduzäer erkennen eine Auferstehung von den Toten nicht an. Das Avesta nennt die heutige Zeit das Zeitalter der Vermischung von Gut und Böse. Eine Zeit der Fortentwicklung der Welt durch das Böse. Wenn der Mensch das Böse besiegt und nur noch LICHT und GUTES erschafft, dann wird der HERRSCHER der WEISHEIT ihm einen ewigen Körper geben. Das wird die Auferstehung von den Toten sein – ein Mensch im verkörperten Zustand wird auf ewig Gutes tun … Hat der LEHRER über die Auferstehung gesprochen?“

– „Auferstehung bedeutet, vor dem VATER lebendig zu werden, und nicht in den Augen der heutigen Welt. Der VATER ist der HERR der Lebenden, nicht der Toten. Und lebendig zu werden heißt, SEIN WORT zu erfüllen. Wenn wir lernen, lebendig zu sein, dann wird das REICH GOTTES auf der ERDE anbrechen. Ich erinnere mich an einen Satz, den Johannes gerne wiederholte: ´Suchet den Lebendigen zu erkennen, solange ihr lebt, damit ihr nicht sterbet.´ Und weiter: ´Wenn ihr das Gute in euch hervorbringt, wird das, was ihr habt, euch retten. Wenn ihr es nicht in euch habt, wird das, was ihr nicht habt, euch töten.´“

Großvater Johannes erzählte folgende Geschichte. Einmal kamen Sadduzäer, die im Gegensatz zu den Pharisäern eine Auferstehung von den Toten nicht anerkannten, zum LEHRER. Sie sagten zu RABBI: „Mose hat im Gesetz geschrieben: ‚Wenn der verheiratete Bruder eines Mannes kinderlos stirbt, soll er dessen Frau nehmen und seinem Bruder Nachkommen schenken.´ Wie kann man dann folgendes Problem lösen? Es waren sieben Brüder. Der erste Bruder heiratete, starb aber kinderlos. Ebenso der zweite und der dritte Bruder … Alle sieben nahmen diese Frau zur Frau. Und sie alle starben und keiner von ihnen hinterließ Nachkommen. Und auch die Frau starb. Wessen Frau wird sie nach der Auferstehung sein?“

Der LEHRER sagte, dass die Menschen des gegenwärtigen Zeitalters heiraten und sich scheiden lassen, aber die Menschen des zukünftigen REICHES, die durch die Reinheit ihres Herzens des ewigen Lebens würdig sind, werden weder heiraten noch sich trennen, wie sie es jetzt tun. Sie werden wie die Engel leben und den Tod nicht kennen und hier auf der ERDE im REICH GOTTES leben, wenn der Teufel besiegt sein wird.

– „Was sagst du zur Wiedergeburt? In meiner Familie wissen wir, dass Menschen die Möglichkeit haben, mehr als einmal auf die Welt zu kommen, um sich zu läutern. So kann man die Folgen falscher Entscheidungen aus der Vergangenheit ändern“ – war eine weitere Frage dieses langen Abends.
– „Jeder ist für seine Sünden verantwortlich. Abhängig davon, was er in diesem Leben getan hat, bekommt er einen Körper und Prüfungen in einem neuen Leben. So erklärte es der LEHRER. Die Jünger hatten keine Zeit, RABBI viel zu fragen; ER war weniger als vier Jahre bei ihnen … Bruder Dasda“, fuhr ich fort – „erzähl mir von Sarma. Gestern habe ich darüber wieder etwas von Pars gehört, dem Anführer der Karawanenräuber. Er führte mich zu dir.“
– „Pars … Ich half ihm durch die KRAFT des ALLGUTEN, durch die Kraft der Gebete, vom Teufel loszukommen, er wollte es. Er möchte sein Sarma ändern, zu dem Pfad zurückkehren, für den er in die Welt gekommen ist … ´Jeder ist für seine eigenen Sünden verantwortlich´ ist eine treffende Formulierung, das ist Sarma. Sünde ist die falsche Wahl zwischen Gut und Böse. Sarma ist die Folge einer falschen Wahl. Die Freiheit, Gutes oder Böses zu tun, und der Preis für die getroffene Wahl bestimmen das eigene Schicksal. Die Wahl zwischen Gut und Böse schafft Sarma und verändert dessen Wirkung … Dieses sind die Herren über mein Schicksal in dieser körperlichen Welt: Die Freiheit der Wahl und das Gesetz der Vergeltung.´

In den Überlieferungen des Avesta heißt es, dass wir diese Wahl – die Art und Weise, das Böse in der körperlichen Welt zu bekämpfen – zu Beginn der Erschaffung der Welt selbst getroffen haben. AHURA MAZDA forderte dazu auf: ´Wählt für euch selbst, was euch zur Harmonie der Ganzheit führt: Entweder ihr werdet in einem unverkörperten Zustand ständig MEINEN Schutz vor dem GEIST der ZERSTÖRUNG benötigen, oder ihr bekommt eine körperliche Gestalt und tretet in der materiellen Welt gegen den Dämonenfürsten an. Und irgendwann einmal wird Ahriman besiegt, und ihr werdet am Ende der Epoche der Trennung von Gut und Böse vollkommen und unsterblich werden – der Kreis der Zeit wird aufhören zu existieren …´ Wir haben uns entschieden, gegen Ahriman in der materiellen Welt anzutreten, die durch einen zeitlichen Ring begrenzt ist.

– „Bruder Dasda, ich möchte dich gern etwas zu Ahriman fragen. Aber dann reden wir bis morgen früh, und außerdem haben wir vereinbart, dass du zuerst die Fragen stellst“ – Ich schaute dem Hüter lächelnd in die freundlichen Augen. – „Lass mich dir eine kurze Frage stellen. Was sagt das Avesta darüber, ob ein Mensch die Vorbestimmung ändern kann?“
– „Strahlender Bruder Euseus“, lächelte Dasda. – „Durch deine freie Wahl in den gegebenen Momenten bestimmst du immer etwas für dich selbst. Indem wir in den Lektionen des Lebens gute Werke vollbringen, bestimmen wir den Lohn, und das wirkt sich auf das aus, was durch die Geburt vorherbestimmt ist. Aber es gibt Ereignisse … die stehen fest, man kann sie nicht umgehen, sie sind durch schicksalhafte Entscheidungen festgelegt, die in der vergangenen Inkarnation getroffen wurden. Ein Avestaner glaubt: Wenn er bewusst den Pfad der Rechtschaffenheit betritt und bei den gegebenen Lektionen eine gute Handlung, ein gutes Wort oder einen guten Gedanken wählt, hat er eine Chance, sich dem Einfluss des Sarma zu entziehen. Wir leben in einem Zeitalter der Vermischung von Gut und Böse, in einer Welt, die durch das Raster der Zeit begrenzt ist. Dies ist eine gute Gelegenheit, sich zu reinigen und dazu beizutragen, diese Welt vom Bösen zu befreien.“
– „Weiser Dasda! Deine Ansicht ist mir sehr nahe. Gelobt sei der Herr! Ich bin dankbar für diese Begegnung. Du bist wieder an der Reihe. Deine Frage.“

– „Der Allmächtige Chormasd hat durch Sartoscht ein Gebet gegeben, Ahunwar. Es enthält einundzwanzig Wörter. In ihm ist die KRAFT und der RHYTHMUS des ALLGÜTIGEN, der RHYTHMUS der GANZHEIT. Dämonen können seinen Klang nicht ertragen. Dort, wo es erklingt, kann Ahriman nicht sein … Hat der LEHRER ein Gebet gegeben? Und kannst du es mir aufsagen?“
Ich nickte, schloss meine Augen, und stellte mir vor, wie das Licht des Vaters von allen Seiten auf mich herabströmt und in mich eindringt, so dass ich ein Teil dieses Lichts werde … und sprach dann das Gebet auf Griechisch.
Als ich die Augen öffnete, hatte Dasda immer noch die Augen geschlossenen und lächelte.
– „Ein gutes Gebet … und kraftvoll“, sagte er ohne seine Augen zu öffnen. – „In ihm ist ein sanftes, goldenes Licht … ‚DEIN WILLE geschehe, o HERR, auf ERDEN wie im HIMMEL‘, DEIN ALLGÜTIGER WILLE! So sei es! In der geistigen Welt GOTTES gibt es nur LICHT. Wo es nur LICHT gibt, kann es keine Dunkelheit geben. Möge SEIN REICH auf ERDEN sich erfüllen! ´Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldnern´… Wer auf dem Weg des Guten wandelt und denen vergibt, die Böses tun, verändert sein Sarma.“

In diesem Augenblick wurden wir von der Melodie einer Mädchenstimme unterbrochen:
– „Papa, sag! Wir machen uns alle schon Sorgen um dich. Mama hat mich geschickt, um nachzusehen, ob du vergessen hast, dass es Nacht ist …“
– „Das ist Jasna, meineTochter“, lächelte der Hüter in der sternenklaren Nacht. – „Ich bin hier, mein Schatz“, fügte er etwas lauter hinzu. – „Ich habe gar nicht bemerkt, dass es schon Nacht ist. Schön, warm, sternenklar, mit einem jungen Mond …“
Das Mädchen kam näher. Es blieb in einiger Entfernung stehen, weil sie es nicht wagte, ihren Vater in meiner Gegenwart zu umarmen.
– „Das ist Euseus, ein kluger Reisender aus einer fernen römischen Provinz. Wir haben nicht bemerkt, wie der Tag verging und die Nacht hereinbrach … Danke, Jasna. Sag deiner Mutter, dass wir bald kommen.“
Das Mädchen verbeugte sich leicht in meine Richtung und hielt dabei ihre Hand unter ihr Herz. Sie winkte ihrem Vater zu: „Papa, wir warten auf dich,“ und verschwand zwischen den Pfirsichbäumen. Ich konnte ihr dunkles, gelocktes Haar sehen, aber ihre Augen konnte ich in der sternenklaren Dämmerung nicht erkennen. Ich konnte allerdings ihre Stimme deutlich wahrnehmen: Sie hinterließ ein angenehmes Echo in mir, und das reichte aus, um zu erkennen, dass Jasna ein schönes Mädchen war.
Gleichzeitig mit dem Lächeln schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: „Ich habe schon lange kein Mädchen mehr gesehen – ich konnte die Schönheit in der Dunkelheit an ihrer Stimme erkennen …“.

Der Sternenhimmel ist die ewige Kuppel des TEMPELS des UNIVERSUMS. Eine lange Sternschnuppe zog unsere Aufmerksamkeit auf sich.
– „Ein weiteres Zeichen unserer Begegnung“, lächelte der Hüter. – „Verzeih mir, heller Bote, ich habe dir, der du von der Reise müde sein musst, viele Fragen gestellt. Das LICHT, das in dir leuchtet, ist ein deutliches Zeichen eines GESANDTEN des ERLÖSERS.“

Es war Zeit für das Mitternachtsgebet. Dasda nahm die Waschungen vor und lud mich ein, ebenfalls das Sakrament zu empfangen. Nach den Waschungen lächelte ich Dasda zu:
– „Was die Häufigkeit der Waschungen anbetrifft, bin ich beinahe schon Avestaner.“
– „Das ist eine uralte Tradition. Verantwortung für den gegebenen Körper und den ihn umgebenden Raum … Innere und äußere Reinheit sind untrennbar. In einem zerfallenen Körpertempel hat es die Seele nicht leicht. Hat der LEHRER etwas über äußere Reinheit gesagt?“
– „Johannes hat einen Satz an die Jünger aufgezeichnet: ´Der eine reinigt das Innere der Schüssel, der Andere das Äußere. Versteht ihr denn nicht, dass der, der das Innere verrichtet hat, auch das Äußere verrichtet hat?´“

… Der Eingang zum Tempel erstrahlte in der Nacht vom Schein des Altarfeuers, das seit Jahrhunderten in diesem Heiligtum gehütet wurde. Ein behaglicher, von Gebeten erfüllter Raum, ein großzügiger Eingang ohne Türen. Ein ewig brennendes Feuer auf einem kleinen Altar. Keine ablenkenden Bilder im Inneren des Tempels, nur das LICHT des Feuers des ALLGÜTIGEN SCHÖPFERS.

Gebet. Das Gesicht eines Avestaners ist dem LICHT zugewandt, der Gabe des SCHÖPFERS. Die Verehrung des FEUERS bedeutet die Verherrlichung des GESETZES des ALLGÜTIGEN.
Ich kniete nieder und betete mit dem Gesicht zum Feuer – mit dem Geist zum Vater. Dasda stand in der Nähe des Feuers und verrichtete das heilige Gebet Ahunwar. Sein Mund war mit dem weißen Padan bedeckt.
Zwei aufrichtige Gebete zum HERRN, in verschiedenen Sprachen, aus reinem Herzen, das nur eine Sprache kennt. Ich dachte an die Worte RABBIS: „Wer MIR nahe ist, ist dem Feuer nahe, wer MIR fern ist, ist dem REICH GOTTES fern“ …
Der Hüter brachte das Opfer dar: Mit einer leichten, gewohnten Bewegung streute er Weihrauch über das Feuer. Das Feuer nahm ihn auf: der Tempel war erfüllt von einem süßlichen Duft von Blumen und Sandelholz – mit einem kaum wahrnehmbaren Hauch von Pinien …

Wieder unter der Kuppel des Sternenhimmels sagte Dasda:
– „Bei den Griechen und Juden sind die Sühneopfer Tiere und Vögel. Der Avestaner weiß: das sind gute Schöpfungen von Hormazd, sie können nicht für die Sühne verwendet werden … Weihrauchopfer für das Feuer sind wie ein Sühneopfer der Seele im LICHTE des ALLGÜTIGEN. Dieses Sakrament gibt demjenigen Kraft und Hoffnung, der es aufrichtig und aus reinem Herzen vollzieht und dabei an das erfüllende LICHT des ALLGÜTIGEN denkt.“
– „Ein Gebet, das nicht aus einem reinen Herzen kommt, ist ein nicht erhörtes Gebet“, antwortete ich.

Das Haus der Familie des Hüters grenzte an den Tempelgarten. Ein großes Anwesen hinter einem hellen steinernen Zaun. Über uns der junge Mond.
Dasda brachte das Feuer in das kleine Haus, das bis zu meiner Ankunft leer gestanden hatte. Ich holte aus meiner Umhängetasche die BOTSCHAFT von Johannes, die ich auf Großvaters Wunsch hin fertiggestellt hatte. Ich übergab das Buch dem Hüter mit folgenden Worten:
– „Hier steht fast alles drin. Lies, weiser und guter Bruder, solange wir zusammen sind.“

Beim Einschlafen stellte ich mir den Großvater vor. Johannes lächelte. Ich sagte zu ihm:
– „Großvater, mein Lieber, jetzt sind wir in Persien. Ehre sei dem Vater! Unser Traum deckte sich mit SEINEM WILLEN.
Ich schlief ein – und Großvater lächelte …

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